Ein Gespenst geht um in Europa.
Das Gespenst des Relativismus. Überall verlieren die demokratischen Parteien an Bindungskraft: An die Stelle der politischen Ideale und Visionen ist im Zeitalter der marktkonformen Demokratie der faule Konsens der Alternativlosigkeit getreten. Grundwerte sind zur politischen Verhandlungsmasse geworden und werden scheinbar nach Bedarf dem permanenten Kompromiss geopfert. Wenn aus falsch verstandenem Pragmatismus regelmäßig jegliche Prinzipien über Bord geworfen werden, bleibt am Ende nichts als bleierne Beliebigkeit.
Dabei sind in Zeiten der propagierten Dauerkrise ein moralischer Kompass und eine klare Haltung existentiell. Denn Europa verliert gerade sein menschliches Antlitz: Die überall wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, der rigorose Abbau demokratischer und sozialer Bürgerrechte im Zuge der Spardoktrin und ein gefährliches Machtgefälle zwischen Wirtschaft und Politik bedrohen die gesellschaftlichen Errungenschaften der Nachkriegszeit. Ein rückwärtsgewandter Nationalismus erhebt wieder sein Haupt, der den Zusammenhalt der europäischen Völker mutwillig aufs Spiel setzt und sich gegenüber Flüchtlingen unbarmherzig abschottet. Deutschland braucht dringend eine progressive Kraft, die die soziale Spaltung und die wachsende Ungleichheit konsequent bekämpft. Deutschland braucht die Sozialdemokratie.
Deutschland braucht die Sozialdemokratie. Aber bestimmt nicht diese SPD. Politisch gezähmt und orientierungslos präsentiert sich die Führungsriege der Partei in der Großen Koalition und bietet bei Programm und Personal keine grundlegende Alternative zur Politik der Konservativen. Führende Sozialdemokraten haben sich mit der Rolle als Juniorpartner der Union abgefunden und sprechen dies offen aus. Das große Ziel, der gesellschaftliche Gegenentwurf, ist verloren gegangen. Im Klein-Klein des politischen Tagesgeschäfts regiert der Kompromiss. Sozialdemokratische Grundwerte werden beinahe selbstverständlich dem bloßen Mitmachen geopfert.
In den Jahren der Regierungsbeteiligung der SPD seit 1998 hat sich eine zunehmende Kluft zwischen Parteispitze, karrierebewussten Berufspolitikern und der SPD-Basis herausgebildet, die zu zwei völlig unterschiedlichen Realitäten geführt hat. Der Professionalismus der Macht, der keine roten Linien kennt, steht der Wahrheit an der Basis gegenüber.
Der SPD ist ihre sozialdemokratische Erzählung abhanden gekommen. Sie wird von vielen Menschen nicht mehr als zuverlässiger Anwalt ihrer sozialen Interessen wahrgenommen. Denn im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich auch die Führungseliten der Partei vom Heilsversprechen des Neoliberalismus blenden lassen und wurden von dessen medialer und politischer
Wirkungsmacht überwältigt und gefügig gemacht. Das ist der eigentliche Grund, warum die Sozialdemokratie in ganz Europa bislang keine eigene wirtschaftspolitische Antwort auf die Finanzkrise gefunden hat, die von ihren Verursachern zur Schuldenkrise umdefiniert wurde, und weshalb sie in fast allen Ländern Europas das Sparprogramm der Rechten zwar abschwächt, aber im Grunde unterstützt. Doch mit dieser Beihilfe an der neoliberalen Gesellschaftszerstörung untergräbt sie ihr eigenes Fundament.
Deutschland braucht die Sozialdemokratie. Doch die SPD hat dieses große Wort längst seiner Bedeutung beraubt. Ideologisch entkernt lässt sie innerparteiliche Demokratie und Debattenkultur zu einem sinnentleerten Allgemeinplatz verkommen. Eine Parteiführung, die mehr auf bezahlte Unternehmensberater vertraut, als auf ihre eigenen Mitglieder, hat den Geist Willy Brandts, mehr Demokratie zu wagen, durch schnödes Basta ausgetrieben. „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Die Partei ist längst zum reinen Erfüllungsgehilfen und Legitimationsvehikel der Regierungsarbeit degradiert worden. Auch parteiintern regiert das Diktum der Alternativlosigkeit, wenn jeglicher Widerspruch durch vermeintliche Staatsräson diszipliniert wird. Dies und eine völlig verkrustete Organisationsstruktur ist Teil der Spielordnung, die der Funktionärselite ihre Pfründe sichert.
Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will… . Wir betrachten unsere Geschichte nicht als Folklore sondern als Verpflichtung. Wir ordnen uns der Spielordnung nicht unter. Wir wollen nicht länger auf Einsicht an der Spitze warten, sondern den Wandel selbst herbeiführen. Wir wollen wieder wirkliche Sozialdemokraten sein.
Wir kämpfen für eine solidarische Gesellschaft, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität keine nostalgischen Phrasen, sondern gelebte Grundwerte sind. Es genügt uns nicht, sich im Glanz der eigenen Geschichte zu sonnen: Die Errungenschaften Anderer dürfen niemals die eigene Untätigkeit und Schwäche legitimieren. In einer sich stetig wandelnden Welt, die gleichermaßen Chancen wie Gefahren bietet, müssen die Antworten stets aufs Neue gefunden werden. Wir verwechseln Politik nicht mit PR, sondern treten für die Vision des demokratischen Sozialismus ein.
I Wir wollen eine Sozialdemokratie, die es allen Menschen ermöglicht, selbstbestimmt zu leben und ihre Persönlichkeit individuell zu entfalten. Wir wollen eine Politik, die dafür sorgt, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben und am kulturellen und wirtschaftlichen Reichtum der Gesellschaft teilhaben. Dazu wehren wir uns gegen die fortschreitende Ökonomisierung unseres Alltags, die ein solidarisches Miteinander untergräbt. Wir wollen eine Sozialdemokratie, die sich wieder öffnet und bündnisfähig wird für die progressiven Bewegungen aus der Zivilgesellschaft.
Dafür muss die SPD eine echte Bürgerrechtspartei sein, die nicht aus Angst die Idee einer freiheitlichen Gesellschaft einer Illusion von Sicherheit opfert. Wir brauchen keine verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung. Anstatt die Privatsphäre der Bürger als Ware für Geheimdienste zu missbrauchen, brauchen wir einen Schutz für Whistleblower.
Wir brauchen keinen tendenziösen Verfassungsschutz, der durch seine dubiosen Verstrickungen die Feinde unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung protegiert. Freiheit bedeutet ein Leben ohne Angst. Ohne Angst vor Überwachung, Verfolgung, Diskriminierung, Ausbeutung aber auch vor sozialem Abstieg.
II Wir wollen eine Sozialdemokratie, die der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich mit wirksamen Maßnahmen entschlossen begegnet. Die Mär vom scheuen Reh Kapital darf in einer globalisierten Welt nicht die sittenwidrige Steuerflucht international agierender Unternehmen rechtfertigen. Anstatt sich in vorauseilendem Gehorsam dem Joch der Großkonzerne unterzuordnen, müssen wir diese Steuerflucht entschieden bekämpfen und falsche Privilegien beseitigen. Anstatt leistungslose Kapitaleinkommen steuerlich zu protegieren, anstatt bei Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer weiterhin fahrlässig untätig zu sein, brauchen wir eine Steuerpolitik, die als wirkungsvolles Instrument der Umverteilung für mehr Gerechtigkeit sorgt. Wir wollen eine Sozialdemokratie, die den Wert der Arbeit in unserer Gesellschaft wieder herstellt. Prekäre Beschäftigungen, gespaltene Belegschaften und ungehemmter Leistungsdruck dürfen nicht länger den Arbeitsmarkt prägen. Die Einführung des Mindestlohns kann nur als erster Schritt für eine durchgehend bessere Lohnentwicklung begriffen werden und darf keinesfalls als Persilschein für Versäumnisse in der Arbeits-und Sozialpolitik in Anspruch genommen werden: Werkverträge, Leiharbeit und Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern müssen entschlossen bekämpft, sachgrundlose Befristungen abgeschafft werden. Soziale Gerechtigkeit muss wieder der Markenkern der Sozialdemokratie sein: Einer Sozialdemokratie, die den Sozialstaat gerechter macht und auf eine breitere Finanzierungsgrundlage stellt. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zur gesetzlichen Rentenversicherung und die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung im Gesundheitswesen, um der Zwei-Klassen-Medizin ein Ende zu setzen.
III Wir wollen eine Sozialdemokratie, die den Frieden durch Diplomatie und nicht durch Säbelrasseln sichert. Die Nato als Wohlstandspolizei der westlichen Industrieländer darf nicht weiter nach Belieben das Handlungsprimat der Vereinten Nationen usurpieren. Für eine verantwortungsvolle Außenpolitik fordern wir das Verbot von Waffenexporten: Der ethische Anspruch sozial - demokratischer Außenpolitik ist internationale Solidarität und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, nicht die Exportbilanz der deutschen Rüstungsindustrie. Außenpolitik ist Friedenssicherung und nicht Fortsetzung der Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln. Das deutsche Grundgesetz wird auch an den Außengrenzen Europas verteidigt: Wer Banken retten kann, kann auch Flüchtlinge retten. Wir wollen eine Sozialdemokratie, die sich endlich von der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin emanzipiert und einen echten wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel einleitet: Eine Kursänderung, die sich von der wachsenden Erkenntnis führender Wirtschaftswissenschaftler leiten lässt, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik zusammengehören. Wir wollen eine Sozialdemokratie, die mit Leidenschaft daran arbeitet, den Vorrang der Demokratie gegenüber den Finanzmärkten wiederherzustellen. Der Einfluss von Großbanken, Wirtschaftseliten und Lobbyverbänden auf die demokratische Politik muss wirksam zurückgedrängt werden. Statt Sonderklagerechte für Konzerne in Freihandelsabkommen braucht es einen gerechten und auf Ausgleich angelegten Welthandel mit streng regulierten Finanzmärkten.
Wir fordern eine andere demokratische Wirtschaftsordnung, in der die Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand bleibt. Wir wollen eine Sozialdemokratie, die die Digitalisierung unserer Arbeitswelt und Gesellschaft für nachhaltiges Wachstum und sozialen Fortschritt nutzt und die weitreichenden Veränderungen transparent und intelligent gestaltet. Deutschland braucht die Sozialdemokratie.
Wenn allerdings die SPD nicht mehr als der soziale Flügel der Union sein will - ein verlässlicher Mehrheitsgarant der marktkonformen Demokratie - dann hat sie ihre Rolle vor der Geschichte gespielt. Als folkloristisches Traditionsprodukt, als Relikt ihrer selbst, braucht es sie nicht. Dafür reicht ein Museum. Ob Sozialabbau, Austeritätspolitik und das Waffenstrecken vor dem ungezügelten Kapitalismus einmal als historische Leistungen der SPD gewürdigt werden, ist fraglich. Klar ist nur: Wenn die Partei diesen Kurs fortführt, wird ihre 150jährige Historie bald zu Ende sein. Als bloßes soziales Korrektiv einer weitgehend entsolidarisierten Konkurrenzgesellschaft hat die SPD keine Zukunft.
Wir waren einmal die Partei der Mutigen. Heute kapituliert die Partei vor der Moral der Anderen, anstatt eine existente parlamentarische Mehrheit links der Mitte zu nutzen. Es ist nicht immer leicht, mutig zu sein. Doch ein weiterer Wortbruch gegenüber unseren Grundwerten ist nicht zu verkraften.Geschichte ist kein aufgezwungener Maßstab.
Wir schreiben die Geschichte der Sozialdemokratie selbst. Die Basis muss endlich die innere Emigration verlassen und ihre Stimme wieder finden. Befreien wir uns von den Ketten des falsch verstandenen Konsens. Durchbrechen wir die Spielordnung! Wir müssen selbst die Alternative sein, die wir fordern.
Die Sozialdemokratie braucht uns.