Mut zum Lernen / die SPD vor der Europawahl

Ludger Elmer

11. März 2019

Warum ist die Enttäuschung der Menschen über die politische Entwicklung in Europa so groß? Warum sind die Rechtspopulisten so stark geworden? Offenbar geben sie eine Antwort auf die angebliche Alternativlosigkeit des Neoliberalismus. Merkel's marktkonforme Demokratie konnte nicht unwidersprochen stehen bleiben. Hintergrund des Brexits sind Sozialabbau - gerade in den Provinzen Großbritanniens- gewesen und Angst davor, dass Migranten die eigenen Arbeitsplätze gefährden. Wenn heute von verstärkter Integration innerhalb der EU gesprochen wird, dann meinen viele zunächst die militärische Aufrüstung. Die hohe Arbeitslosigkeit in Südeuropa, von der gerade die Jugend betroffen ist, wird nicht adressiert. Sind wir wirklich davon überzeugt, dass ein sog. Fachkräfteeinwanderungssgesetz uns gesellschaftlich weiterhelfen wird? Wir fördern den Brain Drain in den Herkunftsländern, verstärken den Wettbewerb auf unserem Arbeitsmarkt, wir helfen der Wirtschaft, die heute - einmalig in unserer Wirtschaftsgeschichte - mehr, also netto, spart als investiert (also sich verschuldet). Wir pumpen täglich Milliarden an Euro in den Finanzmarkt, berauben die privaten Sparer um ihre Erträge, sorgen allerdings nicht dafür, dass die zur Verfügung gestellten Mittel investiert werden. Im Gegenteil, wir verweigern über die Schwarze Null die Instandhaltung und den Ausbau unserer öffentlichen Infrastruktur. Investiert wird nur in Finanzmarktprodukte und Immobilien - die Mieten für Wohnungen steigen dementsprechend. Zur Milderung wird der Steuerzahler zur Kasse gebeten, um das Baukindergeld zu finanzieren. Unser Finanzminister steht bei diversen europäischen Finanzvorhaben ständig auf der Bremse, bei der Finanztransaktionssteuer, bei der Bankenunion, die Banken verpflichten würde, sich im Notfall gegenseitig zu unterstützen - wir sollten nicht glauben, dass beim nächsten großen Crash die zugesicherte Einlagensicherung von 100.000 € ausreichen würde -, oder bei der angemessenen Besteuerung der Konzerne. All diese Dinge bewirken, dass die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen ständig zunimmt.

Wir können aber auch von unseren direkten Nachbarn lernen, wie im nachfolgenden Artikel gezeigt: Beispiele aus Österreich, aus der Schweiz, aus den Niederlanden, aus Dänemark und aus Portugal. Es fällt auf, dass alle Beispiele aus dem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge stammen. Sie betreffen die Rentenpolitik, die Verkehrsinfrastruktur, die Pflege, den Abbau der Arbeitslosigkeit und den Klimaschutz.

Mut zum Lernen (Der komplette Beitrag inklusive der zitierten Quellen ist hier zu finden: https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=4856)

In einer politischen Diskussion hieß es jüngst, wir sollten nicht immer an das Jahr 2040 denken, sondern entscheiden, welche Schritte in diesem und im nächsten Jahr unternommen werden.

Gelingt endlich ein Einstieg in eine ökologische und soziale Transformation der Gesellschaft?

Können echte Schritte zur Begrenzung des Klimawandels vereinbart werden, entsprechend unserer Verantwortung, unseres Beitrags und unserer zugesagten Klimavereinbarungen?

Inwieweit spielt die geforderte Umwandlung der Gesellschaft – z.B. Reduzierung der Mobilität in einer umweltgerechten Verkehrsinfrastruktur, Beenden des Artensterbens in einer biologischen Landwirtschaft, faire Handelsbeziehungen mit den Ländern Afrikas – überhaupt eine Rolle bei der geforderten inhaltlichen Erneuerung der SPD?

Die Vorsitzenden der beiden größten Landesgruppen der SPD Niedersachsen und NRW fordern die Partei auf mutig zu sein. Sie kritisieren den Finanzminister Scholz, weil er zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert. Sie fordern den Außenminister Maas auf, Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zu ergreifen, sowie auf Dialog und Entspannung, auch und gerade mit Russland zu setzen.

Bei anderen Themen könnte sogar die Bayerische Verfassung helfen. Die Artikel 161 und 123 müssen nur genutzt werden, um Boden- und Mietpreise zu regulieren und um die steigende Ungleichheit zu begrenzen. Es heißt dort:

Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.

Wie viel Mut, wie viel Phantasie ist eigentlich notwendig, um eine progressive Politik zu formulieren?

Wo bleiben die Forderungen, endlich das Ehegattensplitting in ein Familiensplitting zu überführen, wo sind die Bestrebungen, die unsoziale Beitragsbemessungsgrenze auf- bzw. mindestens anzuheben?

Wir wollen einen Blick auf unsere Nachbarn werfen, wo der Exportweltmeister doch noch einiges lernen kann.

Wohnen und Rente in Österreich

In Wien ist das Wohnen weitaus preisgünstiger als in Deutschland’s Metropolen. Woran liegt das? Der soziale Wohnungsbau hat hier immer eine dominante Rolle gespielt.

Der Gemeindebau gilt den Wienern als gesellschaftliche Errungenschaft und der Sozialdemokratie als heiliger Gral. Die seit den 1920er Jahren errichteten Wohnhäuser, bis heute im Besitz der Stadt, sind aber nicht der einzige Grund, warum die Wiener wesentlich günstiger wohnen als Menschen in anderen europäischen Städten. Nicht nur gehören 32 Prozent aller Mietwohnungen der Gemeinde, 26 Prozent sind außerdem im Eigentum von gemeinnützigen Immobilienfirmen, die moderate Mieten verlangen. Der Anteil privater Eigentumswohnungen ist in Wien schmal.

Man kann sich doch manches vom Nachbar abschauen, sagt sogar der Münchner Merkur. Die Renten in Österreich liegen wirklich um ein einiges höher als die in Deutschland.

Die Zahlen sind eindeutig: Bei 1231 Euro liegt die monatliche Durchschnittsrente in der Alpenrepublik. Rechnet man ein, dass sie zudem 14 Mal ausbezahlt wird, kommt man sogar auf 1436 Euro. Dem gegenüber stehen in Deutschland nur 909 Euro. Zudem gibt es – anders als in Deutschland – eine Mindestrente.

Es mag Dinge geben, die den österreichischen Vorsprung mindern, über die Einbeziehung der Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung sollte man in Deutschland aber durchaus nachdenken.

Pflege in Dänemark

Die Pflege ist in Dänemark steuerfinanziert, zuständig sind die Kommunen, Pflege ist eine öffentliche Aufgabe.

Die Gemeinden in Dänemark schauen nach ihren älteren Bürgern – sogar schon bevor sie Pflege benötigen. Ab dem Alter von 75 Jahren hat jeder Anspruch auf präventive Hausbesuche. So will man frühzeitig erkennen, wenn dann jemand Hilfe braucht.

In Deutschland werden dagegen immer mehr Pflegeeinrichtungen privatisiert, sagt die Saarbrücker Zeitung:

Im Krankenhausbereich dominierten deutschlandweit vier private Ketten den Markt. Im Pflegebereich seien mittlerweile 42 Prozent der stationären Einrichtungen in privater Trägerschaft. „Die Branche ist für Investoren lukrativ und boomt“, sagte Beatrice Zeiger, Geschäftsführerin der Arbeitskammer, gestern bei der Veranstaltung: „Ist unser Pflegesystem für die Zukunft gesichert?“ in Saarbrücken. Zeiger beklagte: „Nur die Arbeits- und Pflegebedingungen von Beschäftigten und Pflegebedürftigen boomen nicht mit.“ Um möglichst profitabel zu arbeiten, sei das Lohnniveau in einigen privaten Einrichtungen und Diensten der Altenpflege im Gegensatz zu den im Saarland oft tarifgebundenen Häusern besonders niedrig. Zeitzuschläge für Überstunden und Jahressonderzahlungen würden dort nur noch ausnahmsweise gezahlt. Die Arbeitsbedingungen seien in vielen Fällen katastrophal, betonte Zeiger. Das übermäßige Profitstreben der Konzerne sei ein großes Risiko für die Pflege. Der Staat dürfe bei der Pflege nicht alles den Marktkräften überlassen. „Beschäftigte und Pflegebedürftige dürfen nicht Verlierer einer Privatisierung werden“, mahnte Zeiger.

Klimaschutz in den Niederlanden

Während Deutschland seine selbst gesteckten Klimaziele krachend verfehlt, legen die Niederländer ein vorbildliches Klimaschutzprogramm auf:

Laut einem Bericht der TAZ haben Ende Juni 2018 drei Viertel der Abgeordneten im Parlament der Niederlande ein Gesetz vorgelegt, das als Vorbild für die ganze Welt gelten kann: Es schreibe fest, dass die klimaschädlichen CO2-Emissionen des 17-Millionen-Volks bis 2050 verbindlich um 95 Prozent gegenüber 1990 sinken müssen. Bis 2030 sollen es schon minus 49 Prozent sein. Ab 2019 müsse die Regierung alle fünf Jahre eine Strategie vorlegen, wie diese Ziele zu erreichen seien. Und jedes Jahr werde sie mit einem „Klimatag“ die Öffentlichkeit informieren.

Unbeachtet dagegen ist eine Studie des Fraunhofer Instituts vom August 2018 geblieben: Deutschland, so hieß es, könne seine Klimaziele 2020 erreichen.

Der Studie zufolge müssen dafür die ältesten Braunkohle-Blöcke abgeschaltet, Wind- und Solarkraft wie im Koalitionsvertrag vereinbart ausgebaut und Braunkohlekraftwerke, die älter als 20 Jahre sind, in ihrer Leistung leicht gedrosselt werden. So könnten die deutschen CO2-Emissionen bis 2020 wie von der Bundesregierung wiederholt versprochen um 40 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden. „Wenn die Bundesregierung ihr Klimaziel ohne Not aufgibt, torpediert sie jeden internationalen Ehrgeiz, den Planeten zu kühlen“, sagt Anike Peters, Energieexpertin von Greenpeace. „Deutschland kann 2020 wie versprochen 40 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen und dabei die Versorgung sicherstellen. Nicht die technischen Möglichkeiten fehlen, sondern allein der politische Wille.“

Bahnfahren in der Schweiz

Während die Deutsche Bahn AG weltweit Logistikprojekte stemmt, ist sie im Inland mittlerweile im Katastrophenmodus angelangt. Verspätungen, Pannen und Ausfälle häufen sich.

In der Schweiz hat die Bahn oberste verkehrspolitische Priorität:

In der Schweiz steht der Schienenausbau hingegen weit oben auf der Agenda. Während die Eidgenossenschaft im vergangenen Jahr 383 Euro pro Bürger in ihr Schienennetz investierte, waren es in Deutschland nur gerade 56 Euro. Nur 7,4 Prozent aller Personenfahrten entfallen in Deutschland auf den Zug, in der Schweiz sind es 19,3 Prozent, rechnet Wolf-Dieter Deuschle vom Schweizerischen Bundesamt für Verkehr vor. Für ihn ist der Grund klar: “Je mehr in die öffentlichen Verkehrsmittel investiert wird, desto mehr Leute nutzen sie.”

Karikatur vom 18.01.2019

Quelle: Stuttmann Karikaturen

Fiskalpolitik in Portugal

Wie man sich dem Diktat des Exportweltmeisters entzieht, hat auf beeindruckende Weise das EU-Mitglied Portugal gezeigt. Hatte der ehemalige deutsche Finanzminister den Portugiesen noch mit dem EU-Rettungsschirm und der damit verbundenen Austeritätspolitik gedroht, so antworteten die Portugiesen auf ihre Weise mit einem volkswirtschaftlich beispielhaften Kurs:

Die Aufkündigung des absurden Kurses, einfach die Ausgaben überall zu kürzen, führte zum Erfolg. Die von den konservativen Vorgängern gekürzten Löhne und Renten wurden wieder erhöht, eingeführte Sondersteuern wieder abgeschafft und Steuererhöhungen zurückgenommen. Es wurden aber auch Steuern erhöht, wie die Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer. Mit der Zusatzgrundsteuer wurde zudem eine Vermögenssteuer auf Immobilien eingeführt. Ein Freibetrag sichert aber, dass das kleine Häuschen oder die normale Wohnung der einfachen Leute steuerfrei bleibt.

Portugal reduzierte die Arbeitslosigkeit, generierte Steuereinnahmen, drückte das Haushaltsdefizit weit unter die EU Marke von 3% vom BIP und zahlt sogar frühzeitig Kredite des IWF zurück.

Alle diese Beispiele könnten der SPD helfen, ihre inhaltliche Erneuerung voranzutreiben. Gemein ist allen gezeigten Vorgänge, dass Schuldenbremse und Sparpolitik keine guten Empfehlungen für einen progressive Politik darstellen.

Ein Blick in die Medien nach dem gescheiterten Votum im britischen Parlament zur Brexit-Frage zeigt die Ratlosigkeit, nicht nur der Politik. Es ist die Ratlosigkeit nach den Folgen des Neoliberalismus.

Die britische Schriftstellerin und Aktivistin Laura Penny sagt (SZ vom 19./20.1. 2019, Seite 13):

Der Lebensstandard hat sich verschlechtert, die Gebühren für Universitäten haben sich verdreifacht, ein Drittel aller öffentlichen Bibliotheken wurde geschlossen, die Budgets von Kommunen wurden um bis zu 40 Prozent gekürzt, Schulgebäude verrotten, in Krankenhäusern herrscht Mangel an Personal und Geräten, und gestrichen wurde auch die staatliche Rechtsbeihilfe, was vor allem Migranten trifft.

Wenn der soziale Kahlschlag erfolgreich war, dann verhalten sich Wähler und Parlamente so, wie es der Slogan des Neoliberalismus sagt, sie haben offenbar keine Alternative mehr.

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