Radikales Profil (5) Wirtschaftspolitische Kompetenz

27. Juni 2019

Es war einmal eine Große Koalition, die hatte sehr gute volks- und finanzwirtschaftliche Kompetenz. Wirtschaftsminister in dieser Regierung unter Kanzler Kiesinger (CDU) war Karl Schiller (SPD), Finanzminister war Franz-Joseph Strauß (CSU). Diese Regierung verabschiedete 1967 ein Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und verpflichtete die Wirtschaftspolitik auf die Einhaltung der gesamtwirtschaftlichen Ziele Preisniveaustabilität, hohen Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenen Wirtschaftswachstum, das magische Viereck der Wirtschaftspolitik. Diese war aufgefordert, die Zielvorgaben durch entsprechende Haushalts- und Konjunkturpolitik, genannt Globalsteuerung zu erfüllen.

Heute fühlt sich die Politik diesem Gesetz nicht mehr verpflichtet. Stabilitätsvorgaben im Rahmen der EU-Fiskalsteuerung, unterstützt durch die Geldpolitik der Zentralbanken, sichern vorwiegend die Preisniveaustabilität. Prekäre Beschäftigung bei uns sowie hohe Arbeitslosigkeit in Südeuropa verletzen ständig die Zielsetzung eines hohen Beschäftigungsgrades.

Die Einführung der neoliberalen Agenda 2010 (Sozialabbau, Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, Privatisierungen und Dominanz der Finanzmärkte) konnte nur erfolgen, weil vorher die letzten Wirtschafts- und Finanzfachleute in der SPD - Oskar Lafontaine und sein Berater Heiner Flassbeck - zurückgetreten waren.

Seitdem wird der Lohnentwicklung als nachfrageseitiger Stabilisator der Beschäftigung viel zu wenig Gewicht gegeben. Die SPD versteht sich vorwiegend als korrigierende Verteilungskraft. Sie hat nicht verstanden, welche Rolle die Löhne wirklich spielen. Wird der produktivitätsorientierten Lohnpolitik (Lohnsteigerungen sind gleich Produktivitätsfortschritt plus Inflationsrate) nicht gefolgt, dann sinkt die Lohnquote (der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen). Diese betrug in den 90'er Jahren bis 2003 zwischen 70 und 72% und fiel dann zeitweise auf unter 65%.

Der von Rot-Grün geschaffene Niedriglohnsektor, auf den der damalige Bundeskanzler Schröder so stolz war und die mangelnde Tarifbindung haben die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften geschwächt. Neoliberale Politik war immer danach bestrebt, die Angebotsseite der Wirtschaft durch niedrige Löhne und Zinsen zu stärken. Exportseitig hat die Einführung des Euro der deutschen Wirtschaft geholfen. Niedrige Lohnabschlüsse unter dem Produktivitätsfortschritt haben bei stabilem Wechselkurs die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhöht.

Trotz der Exporterfolge bleibt der Sockel der strukturellen Arbeitslosigkeit hoch in Deutschland, berücksichtigt man neben den tatsächlichen über 3 Mio ALG1 - Empfängern die HartzIV-Bezieher, die Leiharbeiter, die Geringverdiener, die befristet Beschäftigten, die Teilzeitbeschäftigten, die mehr als teilzeitig arbeiten möchten sowie die "Working Poor" (arm trotz Arbeit) hinzu.

Heiner Flassbeck sagte es 2017 so:

"Das ist die Schicksalsfrage der Sozialdemokratie. Mit Weil [dem niedersächsischen Ministerpräsidenten] sind große Teile der SPD überzeugt davon, dass es einen Gegensatz zwischen einer vernünftigen Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens und dem Erwirtschaften dieses Einkommens gibt. Was nichts Anderes heißt, als dass sie glauben, man könne nur mit Hungerlöhnen wirklich etwas erwirtschaften. Die Aufgabe der Sozialdemokraten wäre es dann nur noch, nach dem Erwirtschaften dafür zu sorgen, dass die Verteilung leicht korrigiert wird. Das aber ist schlicht falsch.
Es ist genau umgekehrt: Ohne eine vernünftige Verteilung (genauer, ohne eine gut begründete Erwartung der Masse der Menschen, bei der Verteilung des Einkommens voll zu partizipieren) gibt es auch kein vernünftiges Erwirtschaften. Die Masse der Menschen muss immer voll beteiligt werden, damit der Produktivitätsfortschritt nicht zu unausgelasteten Kapazitäten und zu Arbeitslosigkeit führt."

Wer wäre die- oder derjenige in der SPD, die von gesamtwirtschaftlicher Globalsteuerung, von ausgewogener Wirtschaftspolitik zwischen Angebots- und Nachfrägestärkung und von produktivitätsorientierter Lohnpolitik wirklich etwas versteht? Sie wäre ein geeigneter Kandidat für den Vorsitz der Partei.

Ludger Elmer

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