Wahlanalyse: Augen zu und durch

03. November 2017

Die SPD hat bei der Bundestagswahl am 24.9. ein Desaster erlebt, ihr Anteil ist auf 20,5% gesunken. Sie hat damit seit 1998 prozentual die Hälfte der Wähler verloren, damals waren es noch 40,9%.

Die Aufzeichnung der Wählerbewegung zeigt ebenfalls ein dramatisches Bild: Nicht nur sind eine Million Wähler von CDU/CSU zur AfD übergelaufen, es sind ebenfalls eine Million zur AfD gewechselt aus dem Wählerbestand von SPD und Linken (zum großen Teil ehemalige und/oder potentielle SPD-Wähler), jeweils ca 500.000.

Da sollte es Anlass genug sein, eine schonungslose Analyse der Ursachen vorzunehmen. Es treffen sich so viele Ortsvereine und Unterbezirke in diesen Tagen. Martin Schulz, Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, kündigt eine organisatorische, personelle und inhaltliche Erneuerung an.

Wie sieht so eine Aufarbeitung einer deftigen Wahlniederlage aus?

Zunächst zeigt der Vorsitzende des Unterbezirks eine Menge Folien, die alle das gleiche aussagen: In Bayern liegt die SPD traditionell noch mal 5 Prozentpunkte hinter dem Bundestagsergebnis. Die AfD liegt in einigen Orten und Wahlbezirken noch vor der SPD. Der SPD-Kandidat Michael Schrodi im Wahlkreis Dachau/Fürstenfeldbruck hat – mit Ausnahme der Münchner Kandidaten – das beste Erststimmenergebnis eines SPD-Kandidaten in Oberbayern errungen.

Dann folgen die einzelnen Diskussionsbeiträge und die geäußerten Meinungen lassen aufhorchen:

These Nr. 1: In diesem Ort haben so viele AfD gewählt, obwohl die Arbeitslosigkeit dort gar nicht hoch ist.

Es ist doch nicht die Arbeitslosigkeit sondern die Situation der Working Poor, der Leiharbeiter, der Aufstocker, der befristet Beschäftigten, der 1,5 Mio Tafelbesucher, der 40% abhängig Beschäftigten, die in den letzten 20 Jahren keine Reallohnsteigerung erfahren haben. Sie sind die Abgehängten, die in Scharen zur AfD übergelaufen sind.

These Nr. 2: Die Medien sind schuld.

Dass im TV-Duell – was ja ein TV-Duett war – vorwiegend über Flüchtlinge und Innere Sicherheit gesprochen wurde, liegt auch an der gekürzten Programmatik der SPD. Themen wie Klimapolitik, Friedenspolitik, Freihandel, Fluchtursachen und europäische Austeritätspolitik sind im Wahlprogramm der SPD überhaupt nicht behandelt worden.

Andererseits, ich würde mir wünschen, dass die Medien die SPD eines Tages von vorne bis hinten zerreißen. Wenn n-tv und Phönix, SZ und die Welt, TAZ und FAZ, ARD und ZDF die SPD eines Rückfalls in den Sozialismus verdächtigen, dann spricht viel dafür, dass eine inhaltliche Erneuerung stattgefunden hat.

These Nr. 3: Die große Koalition ist schuld.

Wie kann das richtig sein, wenn der Niedergang der SPD seit 1998 kontinuierlich verläuft? Es sind doch nur leichte Korrekturen an der Agenda 2010 in der letzten Legislaturperiode vorgenommen worden. Der Mindestlohn ist 10 Jahre zu spät gekommen, hat noch viel zu viele Ausnahmen und ist, um ein würdevolles Leben zu ermöglichen, viel zu niedrig. Wer glaubt, ein höherer Mindestlohn würde höhere Arbeitslosigkeit hervorrufen, der sei erinnert an die Einwände vor der Einführung. Sie sind alle nicht eingetreten. Heiner Geißler hat auf einer seiner letzten Auftritte im Münchner Literaturhaus gesagt, der Mindestlohn sei nicht dazu da, das Existenzminimum zu sichern, sondern habe lediglich den Sinn, Wettbewerbsgleichheit zwischen den Arbeitgebern herzustellen, also Lohndumping zu verhindern. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus?

These Nr. 4: Wir müssen vorbereitet sein auf die Digitalisierung.

Die Digitalisierung ist doch nur eine Fortsetzung der andauernden Rationalisierung in der Wirtschaft und kostet Arbeitsplätze, ob wir sie Digitalisierung oder Automatisierung nennen. Warum setzen wir dem nicht massive Forderungen nach einer Lohnpolitik, die Produktivitätsfortschritte entweder als Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen – mit vollem Lohnausgleich – entgegen?

These Nr. 5: Die soziale Gerechtigkeit muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Wir haben versäumt, das zu konkretisieren und zu sagen, was meinen wir damit?

Ich frage meinen Nachbarn, ob er SPD wählen würde, wenn er Leiharbeiter sei und 58% des Lohnes bekommt, den sein Kollege, der fest beschäftigt ist, erhält? Und befristet ist die Leihe sowieso.

Wer die Spiegel Story über den Journalisten, der Monate lang im Wahlkampf von Martin Schulz bei allen Besprechungen und Auftritten dabei war, liest, der kann nicht verstehen, warum der Kandidat nach einem inhaltlich und argumentativ erfolgreichen Wahlkampfauftakt – die SPD war bei 30% – von dieser Linie abgewichen ist und auf Schmusekurs umgestellt hat? Dass Hannelore Kraft in ihrem NRW-Wahlkampf dafür verantwortlich sei, kommt mir wie ein Märchen vor.

These Nr. 6: Wir sind eine Volkspartei. Wir müssen für alle da sein.

Das Wort Hartz IV durfte man im Wahlkampf der SPD gar nicht in den Mund nehmen und über die Sanktionen erst recht nicht sprechen. Jeglicher Sozialneid, der aufkam, wenn es um die Betreuung der Flüchtlinge ging, wäre im Keim erstickt gewesen, wenn es nicht die großen Versäumnisse in der eigenen Sozialpolitik gäbe, wenn wir nicht zigtausende von Obdachlosen und die vielen Tafelgänger hätten. Viele sagten, was tut ihr denn für diese? Wir sind doch ein reiches Land.

These Nr. 7: Wir haben zu wenig thematisiert, wie wir den Menschen die Ängste nehmen angesichts der Flüchtlingssituation.

Anstatt der CSU hinterherzulaufen hätten wir den Mut zeigen müssen, die unmenschlichen Abschiebungen in unsichere Herkunftsländer zu unterbinden, den Familiennachzug zu fördern und Arbeitserlaubnisse großzügiger zu erteilen. Wir hätten uns auf das Urteil der beiden großen Kirchen verlassen können.

These Nr. 8: CDU und SPD sind sich so ähnlich.

Die Agenda 2010 haben wir durchgesetzt und die CDU hat Beifall geklatscht. Unser Parteitag hat den Exkanzler Gerhard Schröder in die erste Reihe gesetzt. Er durfte sogar das Grußwort sprechen, der sich Jahre vorher auf die eigene Schulter geklopft hatte, weil er den größten Niedriglohnsektor in Europa geschaffen habe.

These Nr. 9: Es gab keine Wechselstimmung.

Wenn wir wirklich den Mut hätten, über Neoliberalismus zu sprechen und zu definieren, was es ist, nämlich

der erfolgte Sozialabbau (Niedriglohnsektor, Hartz IV, prekäre Arbeit), die Steuergeschenke für Konzerne und Reiche, die Privatisierung der Güter der Daseinsvorsorge, die ungebrochene Dominanz der Finanzmärkte oder die europäische Austeritätspolitik

dann könnten wir auch erklären,

warum der Pflegezustand im privatisierten Dachauer Krankenhaus ein unsäglicher ist, so dass sich eine Rekommunalisierung nahezu aufdrängt, warum die HSH-Nordbank 20 Mrd € an faulen Krediten aufweist, weil sie Reedern den Aufbau ihrer Kapazitäten finanzierte, und dass der Steuerzahler mal wieder dafür gerade stehen muss, weil das geförderte Geschäftsmodell nicht getragen hat, warum durch unsere Straßen nach wie vor die Logistiksklaven fahren, weil die Privatisierung der Deutschen Post so hübsche Renditen eingefahren hat, warum im österreichischen Rentensystem auf eine Privatisierung verzichtet wurde und heute alle Erwerbstätigen einzahlen, was zu einer deutlich höheren Rente als hierzulande führt, warum in den südlichen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeit so groß ist, und und und.

Wir könnten so viele Geschichten erzählen, negative und positive, dass es nicht lange dauern sollte, dass die Bürger sich den Wechsel wünschen würden. Aber zuerst müssten wir uns wohl selber ändern.

Michael Schrodi hat diese Fragen in seinem Wahlkampf deutlich angesprochen, auch die Fehler der SPD thematisiert:

Die größte Gefahr für den inneren Frieden unserer Gesellschaft sieht Schrodi in zunehmender sozialen Spaltung, dem bröckelnden sozialen Zusammenhalt. Wenn die Busfahrerin oder der Krankenpfleger ihre Miete nicht mehr zahlen könnten und sich mit mehreren Jobs in prekären Arbeitsverhältnissen über Wasser halten müssten, dann drohe ihnen die Armutsfalle nicht erst im Alter.

Er hat sicherlich auch deswegen so gut abgeschnitten, weil er die Dinge beim Namen genannt hat.

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